Heute möchte ich inhaltlich aus dem Nähkästchen plaudern und ein Beispiel dafür geben, wie das Definieren eines einzigen Zauberspruchs einen ganzen Abend verbraten kann und welche komplexen Überlegungen hinter einer einzigen kleinen Regel stehen können.
Vorgestern traf ich mich mit meinem Trauzeugen Roland, der zugleich “Chef-Analytiker” der Destiny-Talente war und mich schon vor so manch kapitalem Fehler bewahrt hat. So pendelten wir in der Wiener Innenstadt von Café zu Café, nur beim Thema kamen wir nicht von der Stelle: Der Seher in Destiny Dungeon.
Der Seher ist einer der problematischsten Archetypen, die es im Rollenspiel gibt. Was ihn eigentlich auszeichnen sollte, ist, dass er durch Zeit und Raum sehen kann, aber beides sind Dinge, die sich im Spiel schwer und in einem crunchigen Regelwerk wie Destiny noch schwerer abbilden lassen. Alle Talente, die mit Timing zu tun haben, sind extrem heikel (wer Magic The Gathering kennt, weiß, wieviele Fragen alleine das Thema Instant und Interrupt aufwirft), solche, die mit klassischer Hellsicht zu tun haben, haben enormes Spoiler-Potenzial.
Konkret ging es darum, dem Seher ein neues Grad 0-Talent angedeihen zu lassen, das ihm hilft, seine Rolle zu verkörpern, aber nur beschränkt mächtig ist. Man muss dazu sagen, dass in der momentanen Fassung von Destiny Dungeon die Archetypen-Talente ohne Probe, also jedenfalls gelingen und Grad 0-Talente zudem auch keine Destiny-Punkte kosten. Die Frage war also: Was kann man dem Seher quasi “frei Haus” geben, ohne die Spielbalance zu gefährden?
- Gefahreninstinkt? Lieber nicht. Ein Seher in der Runde, und jeder SL kann sich seine Überraschungsangriffe, Fallen und plötzlichen Entwicklungen an den Hut stecken. Und das nicht hin und wieder, sondern ständig. Wir erwogen kurz, den Seher nur seine Nachteile vermeiden zu können, aber das ist wenig kooperativ und könnte dazu führen, dass die Gruppe ihn anstelle des Diebes vorschickt. Lieber nicht…
- Gedankenband? Der Seher als gedankliche Schaltzentrale zwischen den Gefährten? Eine Legitimation dafür, dass Spieler sowieso immer ein Quäntchen Spielerwissen in ihr Rollenspiel einbringen, zumindest unbewusst? Dauernd, ständig, unter allen Bedingungen? Sehr passiv, auch nicht das Gelbe vom Ei.
- Telepathische Verständigung? Auf den ersten Blick ziemlich cool: Seher mit Schweigegelübde, der hauptsächlich telepathisch kommuniziert – warum eigentlich nicht! Auf den zweiten Blick ziemlich uncool, denn dann kann ich als Seher die NSCs mit ständigem un-ort-barem telepathischem Geschwafel zwangsbeglücken, ablenken und mobben. Geht als Grad 0-Talent nicht durch.
- Letztendlich sind wir bei etwas ganz anderem gelandet, das ich bereits in Araclia implementiert hatte und nun wieder ausgrub: Der Seher hinterlässt an einem Ort einen Teil seiner (optischen) Wahrnehmung, ich nenne es sein Drittes Auge. Er kann dadurch jederzeit an diesen Ort (zurück)blicken und auf dortige Ereignisse – gleichsam wie auf Bewegungen im Augenwinkel – aufmerksam werden. Die genauen Details sind noch zu spezifizieren, wie lange, wie deutlich etc., aber im Grunde glaube ich damit, einen ganz nützlichen Utility-Zauber für den Seher gefunden zu haben. Normalerweise werden solche Zauber ja selten verwendet, weil man nur ungern Punkte für etwas ausgibt, von dem man nicht weiß, ob es relevant wird. Da aber Grad 0-Talente keine Punkte kosten, sollte das hier kein Thema sein.
Und indem ich Audio ausspare und den Seher nur hellsehen, nicht aber hellhören lasse, bringe ich den SL nicht in die Verlegenheit, dauernd ausgefeilte Dialoge zwischen seinen NSCs wiedergeben zu müssen. Er beschränkt sich dann einfach auf Gesten, Gesichtsausdruck, Gegenstände, die übergeben werden, und wenn es wirklich wichtig ist, kann man ja immer noch Würfe auf INT/GES (Lippen lesen, Körpersprache deuten) zugestehen.
Was mir an dem Dritten Auge auch gut gefällt: Es eröffnet dem SL die Möglichkeit, auch Interaktion zwischen NSCs darzustellen, vielleicht eine Alltagssituation oder einfach nur eine lustige Szene zu beschreiben oder gezielt Hinweise auszugeben, die er sonst nicht untergebracht hätte.
Roland hatte am Ende unseres Brainstormings noch ziemliche Zweifel. Mal sehen, ob sie sich als berechtigt herausstellen. Das ist das Spannende am Designprozess: Bis zum Test weiß man nie, welche Regeln sich bewähren.
Da fällt mir ein: Ich seh’, ich seh’… die Auflösung zum Fehlersuchbild von DD#27: Völlig zurecht haben einige festgestellt, dass es nicht nur 1 Ungereimtheit gibt – naja, niemand ist perfekt. Was aber zumindest für mich am schwersten gewogen hat, war die Tatsache, dass der Gaukler mit dem Rücken im Netz steht und auch noch die Hände hoch hält. Es muss sehr seltsam anmuten, wenn ein Gaukler mit hoch erhobenen Händen rückwärts durch einen Dungeon spaziert. Aber hey, vielleicht wich er vor Armbrustschützen zurück, die ihn ins Innere drängten! Scherz. John hat mittlerweile zugegeben, dass er beim Skizzieren nicht Herr seiner Sinne war, die (etwas) verbesserte Fassung zeige ich hier in Kürze.
Das mit den erhobenen Händen habe ich auf “Huch, ein Netz!” geschoben.
Das “Hellsehen” finde ich eine gute Idee. Ich habe beim Lesen mit gedacht und mir fiel auch nichts sinnvolles ein. Ist es dann so gedacht, dass der Seher an einem Ort sein muss und dort sein Auge “aufstellt” und es dann dort bleibt, bis er zurück kehrt? Weil auch sowas kann mächtig werden, wenn es zu unbeschränkt einsetzbar ist. Bei D&D 3 ist es immerhin ein Zauber dritten Grades.
Genau, er “stellt” sein Auge “auf” und es bleibt dort, bis er den Zauber quasi beendet und das Auge an einem neuen Ort “aufstellt”. Dass er es abholen muss, hätte ich nicht vorgesehen. Man könnte aber drüber nachdenken oder eine ähnliche Einschränkung finden, wenn sich herausstellt, dass die Wirkung so wie beschrieben zu mächtig ist.
Dass so was bei D&D3 erst ein Zauber dritten Grades ist, wundert mich, aber gerade bei Utility-Sprüchen hängt die “Nützlichkeit” oder “Mächtigkeit” immer auch sehr vom jeweiligen Spieler ab. Objektive Kriterien gibt’s da nicht.
Der D&D-Zauber erlaubt es halt Orte als Ziel anzugeben an denen man gerade nicht ist. Nichts mit aufstellen. Man muss den Ort nur kenne oder es muss klar sein was gemeint ist und das ist 400 + 40*Stufe Fuß oder sowas. Sowas wie “In dem Turm dort oben, oberstes Stockwerk hinter dem geschlossenen Fenster” geht also prima. Der ist deutlich mächtiger. Ich denke, Deine Einschränkung passt sehr gut. Es macht den Zauber hilfreich, aber nicht zu mächtig. Die magische Überwachungskamera. Und es regt in der Tat die Kreativität an.
“Das ist das Spannende am Designprozess: Bis zum Test weiß man nie, welche Regeln sich bewähren.”
Wie wahr, wie wahr! Musste bei dem Kommentar unfreiwillig schmunzeln. In den Tests hat sich schon so mancher Geistesblitz als Spielspaßbremse herausgestellt…
Aber schön zu sehen, dass es nicht nur uns so geht! 🙂