Wenn man sich moderne Rollenspiele anschaut, könnte man meinen, dass der Trend Richtung Erzählspiel und damit auch in Richtung abstrakte Mechanismen geht. Ist das so? Was heißt in diesem Zusammenhang “abstrakt”, und wie wirkt sich das auf die Spielweise aus? Es folgt ein (für meine Verhältnisse) etwas längerer, assoziativer Gedankengang.
Definition
Mit abstrakt meine ich, dass sich die Regeln weniger auf Handlungen fokussieren, sondern eher auf Wirkungen in der Spielwelt und das Verändern von Gegebenheiten. Das Gegenteil von abstrakt wäre in diesem Sinne nicht konkret, sondern simulationistisch, eben das Simulieren von Handlungen nach dem Prinzip von Aktion und Reaktion. Abstrakt und simulationistisch scheinen sich mir ein wenig wie Zweck und Mittel verhalten. So wie man auch jede Diskussion auf einer feingranularen Ebene führen kann oder aber auf einer teleologischen (= am Zweck orientierten).
Beispiel
- Beispiel 1 (simulationistisch): Spieler A: “Ich gehe zur Kette der Zugbrücke. Ich setze meinen Speer in das blockierte Gewinde und drücke mit aller Kraft”. SL: “Würfle eine Kraftprobe!” etc.
- Beispiel 2 (abstrakt): Spieler B: “Ich möchte die blockierte Zugbrücke herunterlassen. Welche Möglichkeiten sehe ich?” SL: “Würfle auf Mechanismen!” etc.
Abstrakt heißt, dass sich der Spieler weniger an den Handlungen seines SCs orientiert, sondern eher an den Zielen. Das hat profunde Auswirkungen auf den Spielstil und den Spielverlauf. Und es fühlt sich auch komplett anders an. Dass in Beispiel 2 aus einer physischen Probe eine Wahrnehmungs/Wissens-Probe wurde, ist nur ein Teil des Abstraktions-Syndroms und steht für eine durchaus repräsentative Verschiebung von Schwerpunkten.
Im obigen Beispiel sieht man außerdem, dass Spieler A sehr tief drinnen ist in den Details. Er sieht die Einzelteile – eine Kette, ein Gewinde, ein Speer – und er sagt uns genau, welche Schritte sein SC zur Lösung des Problems setzt. Für Spieler B steht das nicht im Vordergrund. Er will nicht simulieren, welche Handgriffe zu tun sind, bis die Zugbrücke herunterkommt, sondern er will die Zugbrücke unten haben und sich dann mit einer veränderten Situation beschäftigen.
Der dramaturgische Wert von Abstraktion
Beides ist nicht gut oder schlecht, sondern einfach ein anderer Zugang. Meistens ist der erzählerische Zugang zum Rollenspiel gleichzeitig auch abstrakter, weil ein sich veränderndes Drama nicht aus kleinteiligen Handlungen entsteht, sondern aus einem dynamischen, sich ständig und auch weitreichend verändernden Gefüge. Heißt im Beispiel: So lange sich die Zugbrücke nicht bewegt, wird sich an der Situation im Spiel nicht viel verändern. Sobald die aber mal unten ist, geht die Post ab: neue NSCs, neue taktische Situation etc.
Vom Design-Standpunkt her neigen also nicht ohne Grund viele erzählerische Spiele dazu, manches abstrakt zu lösen. Auch übrigens Destiny Beginner: Die Regeneration von Konstitution und Destiny-Punkten orientiert sich nicht an Nachtruhe und Schläfchen, sondern am Szenenwechsel und somit am Erzählfluss. Oder bei der Großen Gabe lernt der Magier keine Zaubersprüche, sondern beschreibt, was er erreichen möchte und erhält im Erfolgsfall Punkte, mit denen er diesen Effekt erzielen bzw. beschreiben kann.
Symptome von Abstraktion
Ein Symptom von Abstraktion ist, dass Details verloren gehen. Wo man im kleinteiligen Old-School-Spiel noch genau spezifiziert, auf welche Pflastersteine man im Dungeon tritt und welche man auslässt, wird das im abstrakten Erzählspiel bestensfalls zu einer einzelnen Probe, wenn nicht sogar zu einer Situation, in der “Story-Punkte” ausgegeben werden, um an diesem Teil des Abenteuers gar nicht erst mit Fallen behelligt zu werden.
Auch das ist nicht gut oder schlecht, wiewohl manche Spieler Details brauchen, um sich Ideen zu holen. Ich gehöre z.B. dazu. Ich betrachte mich zwar als erzählerischen Spieler, aber meine Kreativität braucht Fixpunkte, und die hole ich mir aus den Details. Wenn Details niemanden am Tisch interessieren, dann bin ich in einer zu abstrakten Runde gelandet.
Ein weiteres Symptom (ich spreche absichtlich von Symptomen, nicht von Problemen) des abstrakten Spiels ist, dass – ähnlich wie das, was ich hier schon mal angedacht habe – eine gewisse Meta-Ebene dominiert. Und zwar unausweichlich, wie folgendes Beispiel zeigt:
- Spieler A: “Ich möchte den Gegner einfrieren!”. SL: “Da es in diesem System keinen Zauberspruch Einfrieren gibt, sondern du alles zaubern kannst, musst du mir sagen, was du damit bezwecken willst.” Spieler A: “Was soll ich schon bezwecken wollen? Ich will ihn einfrieren!” SL: “Ja, aber was möchtest du bezwecken? Soll er sich nicht bewegen können, dann kannst du ihm Behinderungspunkte beibringen, oder soll er erfrieren, dann sind es Schadenspunkte.” Spieler A: “Ähm…. beides?”
- Gleiches System, anderer Spieler B: “Ich möchte den Gegner einfrieren. Ich nutze meine Große Gabe in Magie und decke ihn mit einem Kälteschauer ein!” SL: “Behinderung oder Schaden?” Spieler B: “Hm… in diesem Fall ist uns mehr gedient, wenn ihn die Vereisung verlangsamt. Behinderungspunkte also.”
Ob ein Rollenspiel funktioniert, hängt demnach weitestgehend davon ab, ob das Niveau an Abstraktion mit jenem der Spieler harmoniert. Darum habe ich Destiny und Destiny Beginner auch voll kompatibel zu einander gemacht. Wer mit der Großen (abstrakten) Gabe nicht kann, greift einfach zum kleinteiligeren Talente-Crunch von Destiny.
Auswirkungen auf das Design
Unterm Strich heißt das, man muss sich, wenn man ein Rollenspiel baut (und dabei nicht konzeptionell in der Comfort Zone der 80/90er-Jahre stehen bleibt), sehr genau Gedanken über das Abstraktionsniveau machen, welche Auswirkungen es auf das Spiel hat (Kampf z.B. ist eine traditionelle Hochburg des Simulationismus; hier werden abstrakte Mechanismen viel stärker spürbar als etwa bei einer Skill Challenge am Basar) und welche Spieler man damit ansprechen möchte. Mit Anfängern oder Profis hat das Ganze, denke ich, nichts zu tun. Aber mit der Bereitschaft, sich von Details zu lösen und den Fokus von den Mosaiksteinchen weg auf das große Bild zu verschieben.
Und genau das habe ich mir für meinen weiteren Rollenspiel-Weg vorgenommen. Sowohl als Spieler als auch als Spielleiter als auch als Systemdesigner. Mal sehen, wohin mich das führt.
Recht gut getroffen. Was vielleicht noch erwähnt werden sollte, sind die z.T. massiven Umstiegsprobleme wenn Spieler nur eine der beiden Ausrichtungen kennen und mit der zweiten konfrontiert werden (DSA-/Pathfinder-Spieler spielen z.B. zum ersten mal FATE). In so einem Fall muss man zuerstmal klar stellen, dass Intention und Ansatz ein gänzlich anderer ist.
Viele schließen von ihren bisherigen RP-Erfahrungen auf alle Rollenspiele, was in einem solchen Fall nur scheitern kann. Man muss “Rollenspiele” durch die gewaltige Vielgestaltigkeit der Spielstile einfach betrachten wie “Brettspiele”. Niemand vergleicht Arkham Horror mit Siedler von Catan.
Würde das nicht so sehr als “abstrakt vs. Simulation”, sondern eher “abstrakt vs. detailliert” sehen (es gibt einige Systeme deren Regeln ziemlich abstrakt sind, trotzdem aber sehr viel simulieren).
Man sollte noch erwähnen, dass ein hoher Detailgrad durchaus auch zum Metagaming verleiten kann, z.B.:
– Oh, der SL möchte genau wissen, auf welche Pflastersteine wir im Dungeon treten. Dann ist hier sicher eine Falle, daher werfe ich vorher noch einen Heiltrank ein, aktiviere den Zauber, welcher mir Boni auf Rettungswürfe gibt und wirke außerdem “Magie bannen” über den gesamten Bereich.
– Ich habe grottige Werte in “Mechanismen”, deswegen beschreibe ich detailliert, wie ich einen Speer in das blockierte Gewinde setze und somit auf Kraft ausweiche, wo ich besser bin
Im zweiten haben wir auch den Unterschied zwischen abstrakt/detailliert und Ergebnisorientiert/Simulierend: in simulierender Spielweise würde der Wurf über Erfolg/Misserfolg entscheiden (und folglich auf Kraft laufen), bei einer ergebnisorientierten Spielweise würde der Wurf darüber entscheiden, ob der Speer-Hebel eine gute oder schlechte Idee war (und folglich auf Mechanik laufen) – wenn im letzteren Fall der Wurf daneben geht, dann kann dies verschiedene Gründe haben (was auch Sinn macht: jemand mit grottigen Mechanik-Kenntnissen könnte trotzdem auf die Idee des Hebels kommen, aber vielleicht entgeht ihm eher dass die Winde verrostet ist, dass die Kette blockiert oder dass die Zugbrücke morsch ist und niemanden mehr trägt).
Interessanter Artikel.
Wobei ich die Unterscheidung nicht so strikt treffen würde – auch in einem “simulierenden” System ist der Zweck (telos) des Fertigkeitseinsatzes ja die Lösung einer Spielsituation. Es gibt mAn keine klare Dichotomie zwischen simulierend und abstrakt in der Betrachtung “Ziel ergibt sich aus der Spielwelt (und wird durch Einsatz konkreter Fertigkeiten gelöst)” versus “Ziel ergibt sich aus den (abstrakten) Fertigkeiten”:
Das Beispiel mit der Zugbrücke kann simulierend gelöst werden durch “Speer als Hebel einsetzen + Kraftprobe”, vielleicht noch garniert durch eine vorherige Mechanik-Probe oder ähnliches. Die “abstrakte” Lösung, die du beschreibst – das Tor soll geöffnet werden, der SL verlangt eine Probe auf Mechanismen – ist im Prinzip ja genau das gleiche, nur, dass der Spieler hier den Lösungsweg an den SL abtritt. Aber auch in einem abstrakten System könnte er sagen “Ich möchte mit meinem Diebes-Skill den Mechanismus öffnen!” oder aber auch “Ich möchte mit meinem Stärke-Wert das Gatter hochstemmen”.
Grundsätzlich besteht hier für mich kein Unterschied, weil in allen Fällen sich das Ziel (Zugbrücke öffnen) aus der Spielsituation ergibt, und die regeltechnische Umsetzung in beiden Fällen lautet: suche den passendsten Skill und würfle darauf. Solange die Skills eines Charakters in direkte Relation zu einem beschriebenen Umstand in der Spielwelt gesetzt werden, ist das für mich kein “abstraktes Spiel”, sondern man kann bestenfalls betrachten, wie abstrakt das Spiel die Charakterskills regelt – gibt es etwa eigene Werte für Stärke, Mechanik etc., oder besteht der Charakterbrief nur aus drei Werten für “Kraft, Geschick, Schläue”? An der Spielsituation ändert das aber mAn nichts.
In einem abstrakten System, so wie ich das bisher verstanden habe, würde es beispielsweis um den “Konflikt” “SCs wollen in die Burg!” gehen – und es läge dann am Spieler, der anhand der Möglichkeiten seines Charakters entscheidet, den Weg über die Zugbrücke (mittels Mechanik, Stärke, Geschick, Säurebombe oder was auch immer), über die Mauer ( durch Flugzauber, Klettern, Geschick etc.) oder ganz anders (z.B. Herbei-Player-Empowern eines Geheimganges oder Infiltration durch den Skill “Geheimagent”) zu nehmen. Letztlich ist das aber doch die Unterscheidung zwischen task- und conflict-resolution – oder?
Oder auch nicht? Im Forum sind wir damals trotz langer Diskussion ja auf kein endgültiges Agreement gekommen.
Ich sehe noch keine so ganz klar formulierbare Trennungsmöglichkeit zwischen abstraktem und simulativem Rollenspiel, bei der es nicht gleichzeitig sowohl um regeltechnische Möglichkeiten (etwa den Auflösungsgrad von Werten und Proben), als auch um den Spielfokus (weitwinklig-abstrakt-conflict-basiert oder detailliert-konkret-task-basiert) geht. Man kann auch mit einem konkreten System abstrakt spielen (geht gut) oder es mit einem abstrakten System konkret versuchen (geht schlecht). Wünschenswert wäre auf jeden Fall, wenn Regelwerke darauf expliziter erklärend eingehen würden.
Ich glaube die Grenzen in den Spielgruppen sind fließend, bzw. stark von den Spielern abhängig. Natürlich fördern die Systeme mal das eine, mal die andere Variante. Hat man eine homogene Spielgruppe die ihren Spielstil gefunden hat und praktiziert, ist das doch nur dann relevant wenn man auf eine andere Spielgruppe stößt die einen anderen Stil pflegt. Letzten Endes ist doch auf vom Spielleiter abhängig ob er auf die unterschiedlichen Spieltypen am Spieltisch eingeht oder sich eher von der einen oder anderen Richtung nähert.
Irgendwie verstehe ich unter Simulationismus etwas anderes als du. Für mich spiegelt sich der Simulationinsgrad besonders in der Kleinteiligkeit von Regeln und Hintergrundwelt wieder.
Da ich wirklich kein Spieltheoretiker bin, versuche ich mal mein Verständnis an deinen Beispiel zu verdeutlichen. Dabei lasse ich den “Abstrakt” Faktor bewusst außen vor.
Wenig Simulationismus:
Spieler A: “Ich gehe zur Kette der Zugbrücke. Ich setze meinen Speer in das blockierte Gewinde und drücke mit aller Kraft”.
SL: “Würfle eine Kraftprobe!”
Viel Simulationismus:
Spieler A: “Ich gehe zur Kette der Zugbrücke. Ich setze meinen Speer in das blockierte Gewinde und drücke mit aller Kraft”.
SL: “Alles klar, dann mach mal eine um +4 modifizierte Kraftprobe. Wegen dem Gewicht der Brücke liegt der Mindestwurf bei 34. Und unabhängig vom Erfolg anschließend noch einen Bruchtest für den Speer. Um 1 erleichtert, weil er meisterlich ist.”
Und andersherum wäre es nicht abstrakter:
Spieler B: “Ich möchte die blockierte Zugbrücke herunterlassen. Welche Möglichkeiten sehe ich?”
SL: “Du kannst mit einer Kraftprobe versuchen das blockierte Gewinde zu lösen!”
Je nach Regelwerk gäbe es jetzt mehr oder weniger regelverankerte Möglichkeiten (oder sogar Notwendigkeiten) für SL/SC die Probe zu modifizieren oder mit weiteren Details zu ergänzen (Simulieren). Mit dem Abstraktiongrad hat das für mich aber nicht viel zu tun.
Auf der anderen Seite muss ein abstraktes Spiel nicht zwangsläufig ohne Beschreibungen (“Ich benutze Mechanik”) auskommen und sich auf einer Metaebene befinden. Mir ginge das geFate aus deinen späteren Beispielen wahrscheinlich genau so auf den Senkel wie der “fantastische Realismus” bei DSA4.
Meiner Meinung nach beeinflussen sich Simulations- und Abstraktions”stärke” nur im geringen Maße. Weshalb es auch mühselig ist zwischen beiden ein “Verhältnis” oder einen Zusammenhang festzustellen.
Aber guter Artikel! Normalerweise halte ich mich nämlich aus solch theoretischen Debatten raus 😉
Hm, nicht ganz die Definition, die ich geschrieben hätte, aber auch nicht weit davon entfernt. Aber mir ist noch ein weiterer Aspekt aufgefallen:
Der simulationistische Ansatz enthält auch eine andere Herausforderungsebene und zwar eine taktische. Das ist der schon zuvor von Andreas angesprochene Lösungsweg, der in dem Fall von Spieler kommt. In Beispiel mit der Zugbrücke mit der Spieler sich das Vorgehen mit dem Speer in der Kette überlegen. Beim abstrakten Absatz liegt der Lösungsweg wie angesprochen beim SL oder er ist dieser gar nicht relevant solange es eine plausible Möglichkeit zur Lösung geben könnte. Als Ersatz dafür wird in solchen Spielen dann eine dramatische Herausforderung gegeben, der Spieler übernimmt die Mitverantwortung for eine spannende Geschichte, womit es dann erst tatsächlich zum Erzählspiel wird. Allein der abstrakte Fokus reicht dafür ja nicht.
Und du willst nun aufs Abstrakte fokussieren? Tus nicht! 😉
Gegenfrage: Warum nicht?
Weil: Abstrakt ist langweilig. Siehe z.B. http://www.aceofdice.com/?p=1850.
😉
Genau. Und weil ich es nicht mag (für dich ein ganz wichtiger Grund 😉 ) und hauptsächlich, weil es gerade jeder macht. Dungeon World, Fate usw. gehen alle diesen Weg, aber keine kümmert sich mehr um die detailliertere, taktische Ecke.
DSA5 😀
DSA 5 fällt einfach nur in die tschetschenische Ecke “verrückt“.
Ich kann Dir nur zustimmen, Jan – aus tiefstem Herzen zustimmen.
AoD: Mit abstrakt meine ich, dass sich die Regeln weniger auf Handlungen fokussieren, sondern eher auf Wirkungen in der Spielwelt und das Verändern von Gegebenheiten.
Beschreibt eine Regel nicht IMMER die Wirkung einer Handlung in der fiktiven Welt?
AoD: So wie man auch jede Diskussion auf einer feingranularen Ebene führen kann oder aber auf einer teleologischen (= am Zweck orientierten).
Meiner Meinung nach schließt das eine nicht das andere aus, weder bei Diskussionen noch bei Regelwerken.
AoD: Abstrakt heißt, dass sich der Spieler weniger an den Handlungen seines SCs orientiert, sondern eher an den Zielen.
Das ist jetzt aber eine Definition von Dir – die ich nicht teile.
AoD: Im obigen Beispiel sieht man außerdem, dass Spieler A sehr tief drinnen ist in den Details. Er sieht die Einzelteile – eine Kette, ein Gewinde, ein Speer – und er sagt uns genau, welche Schritte sein SC zur Lösung des Problems setzt. Für Spieler B steht das nicht im Vordergrund. Er will nicht simulieren, welche Handgriffe zu tun sind, bis die Zugbrücke herunterkommt, sondern er will die Zugbrücke unten haben und sich dann mit einer veränderten Situation beschäftigen.
Ja. Aber es ist der SL, der würfeln lässt!
AoD: Meistens ist der erzählerische Zugang zum Rollenspiel gleichzeitig auch abstrakter, weil ein sich veränderndes Drama nicht aus kleinteiligen Handlungen entsteht, sondern aus einem dynamischen, sich ständig und auch weitreichend verändernden Gefüge.
Aber sowas von gar nicht!
AoD: Ein Symptom von Abstraktion ist, dass Details verloren gehen.
Ähm, nein. Abstraktion IST das Entfernen von Details (siehe zb Wikipedia)
AoD: Wo man im kleinteiligen Old-School-Spiel noch genau spezifiziert, auf welche Pflastersteine man im Dungeon tritt und welche man auslässt, wird das im abstrakten Erzählspiel bestensfalls zu einer einzelnen Probe, wenn nicht sogar zu einer Situation, in der “Story-Punkte” ausgegeben werden, um an diesem Teil des Abenteuers gar nicht erst mit Fallen behelligt zu werden.
Ich finde, hier vermischt Du mindestens drei Aspekte in, wie ich finde, unzulässiuger Weise. 😉
1. Die Erzählung liegt beim Spieler. Er beschreibt, wie sein Char sich durch den Dungeon bewegt. Das ist aber unabhängig vom Regelwerk.
2. Die Probe: die Aufforderung kommt in der Regel vom SL. Warum nun gewürfelt wird, hängt von SL ab. Um beim Beispiel zu bleiben:
– wenn mein Spieler beschreibt, dass sich der Char vorsichtig über den Boden bewegt und seinen Weg mit dem 10ft-pole abklopft, werde ich die Falle auslösen, bevor der Char drauf tritt, weil der Spieler eine Beschreibung gewählt hat, die eine derartige Reaktion der Umwelt auf den Char-Aktion erwarten lässt.
– wenn der Spieler seinen Char durch die Halle rennen lässt (warum auch immer), löst der Char die Falle aus, weil: unvorsichtig
(bislang haben wir noch nicht gewürfelt! – Das ist im übrigen mein Verständnis von oldschool “Rulings, not rules”)
Erst wenn ich als SL die Verantwortung von Schlimmen Dingen(tm) vordergründig von mir wälzen will, oder wenn wir (Spieler+SL) uns nicht einig sind, wird gewürfelt. Und jetzt erst würde ich schauen, was das Regelwerk sagt.
Rollenspiel ist das gemeinsame Erzählen einer Geschichte mit besonderen Regeln zur Konfliktlösung 😉
Worauf Du, vermute ich, hinaus willst, ist
3. Task resolution vs. Conflict resolution
Das hat aber nur eingeschränkt etwas mit Simulationismus zu tun. Grob gesagt, bei Conflict resolution wird weniger gewürfelt, man macht das Resultat einer Szene nicht mehr abhängig von einer Folge von Würfen, sondern nur noch von einem Wurf. Die Idee der Conflict resolution ist, dass es kein Interesse gibt zu würfeln, ob der Char die Waffe schnell genug ziehen kann, sie rechtzeitig bereit hat, sich soweit konzentriert hat, und dann schießt (ich konstruiere gerade ein plakatives Beispiel), sondern nur, ob er trifft oder nicht.
Ich verstehe Simulationismus als Versuch, die spielweltlichen Gegebenheiten möglicht detailliert in eine Probe einfließen zu lassen. Mein Lieblingsbeispiel hier ist GURPS. Ich habe es 4 Jahre gespielt und 2 Jahre geleitet, und kann bis heute keinen Kampf (im voller Schönheit) auswürfeln lassen, weil man soviele Dinge berücksichtigen kann – bis hin zum Wetter.
Das hat aber nicht zwingend etwas mit der Anzahl Würfe (Conflict vs. Task) zu tun.
> Aber mit der Bereitschaft, sich von Details zu lösen und den Fokus von den Mosaiksteinchen weg auf das große Bild zu verschieben.
Auch nicht wirklich. Die Runde muss sich klar sein, welchen Detailgrad sie IN EINER PROBE haben möchte. Wenn’s darauf ankommt, ob die Patrone mit Schwarzpulver oder Nitrozellulose geladen ist, braucht es detaillierte Regeln, als wenn man zufrieden ist mit Hieb- vs. Stichwaffe – das hat aber keine zwingende Korrelation zum Detailreichtum der Handlungsbeschreibung.
Und was zu welchem Zeitpunkt getestet wird (Conflict vs. Task), da würde ich aus meiner Praxis sagen. das hängt stark von der Handlung ab. Manchmal lasse ich kleinteilig würfeln, manchmal gar nicht.
Der Spieldesigner sollte sich überlegen, wieviel Konflikt am Spieltisch (Meta! SL vs. Spieler) er zulässt (Rulings statt Rules), und wo er helfend vorab eingreift, indem er Regeln vorgibt (Balancing, Berechenbarkeit).
Ist durchaus legitim, das anders zu sehen oder zu definieren, Christian. Ich hänge auch weniger an den Definitionen als an den Schlussfolgerungen, und für mich führt das Analysieren des Phänomens Abstraktion zum Ergebnis, dass es verdammt unterschiedliche Spieler gibt, die sich u.a. darin unterscheiden, dass einige gut mit Regeln zurecht kommen, die am Zweck orientiert sind und das Simulationistische zurückstufen, und andere damit ein Problem haben.
Womit du sicher recht hast, ist, dass ich einige Dinge mische, aber ich habe auch nicht den Anspruch, hier eine reine Lehre zu postulieren. Vielmehr möchte ich Gedankengänge und Beobachtungen aufwerfen, die meines Erachtens irgendwie alle mit einander zusammenhängen und für den Designprozess und das Verstehen, warum manche Spieler manche Spiele ablehnen, relevant sind.
Soweit mal viiielen Dank für die rege Beteiligung an diesem schwierigen Thema, an das ich noch dazu ziemlich assoziativ herangegangen bin. Da sind sehr lehrreiche Erkenntnisse dabei, die ich erst mal verarbeiten und neu für mich ordnen muss. Es ist mir nämlich offenbar nicht gelungen, meine Kernaussagen herauszustreichen, aber ich werde das bestimmt nicht lange schuldig bleiben. 🙂