Es war noch nachts gewesen, als Struggel erneut die Harfe gehört hatte – als würde sie ihn rufen.
Learto schlief noch tief und fest und ließ sich nicht wecken, also schlüpfte der Trosh hastig in sein Übergewand und zappelte nach draußen. Ein kühler Wind wehte über den Dorfplatz und trug eine sich wiederholende Melodie an sein Ohr. Anders als die Nacht zuvor, war der Klang jedoch dünn und fein und gerade laut genug, um ihn neugierig zu machen.
Die Musik ertönte von oberhalb des Wasserfalls, daher zögerte er nicht lange und lief zur Goldfall-Promenade. Auf dem Weg sah er in das Gesicht eines Mädchens, dessen spitze Nase unter einem Kapuzenumhang hervorlugte. Sie kam ihm vage bekannt vor…
Oberhalb des Wasserfalls fand er die Quelle der Melodie: Kardia stand da, in einen wollenen Mantel gekleidet, mit einem langen Schal, der ihren faltigen Hals vor der Kälte schützte. Als sie ihn sah, ließ sie eine kleine Handharfe aus einer knöchrigen Hand in ihren Gürtel gleiten.
“Sieh an, auch Trosh vermögen der Macht der Musik nicht zu widerstehen. Vor allem, wenn sie Sklaven ihrer eigenen Neugierde sind.”
Reißer lag ihr zu Füßen, doch nun erhob er sich und schlich wie ein lauerndes Raubtier um ihn herum. Zu spät erkannte Struggel, dass er sich Kardia ausgeliefert hatte.
“Kommt näher!”, befahl sie, und Struggel spürte Reißers Schnauze in seinem Rücken.
“Euer Spiel wird nicht unentdeckt bleiben, Harfenspielerin. Ich habe Euch durchschaut, und wenn mir etwas Schlimmes widerfährt, wird mein Freund Learto Euch zur Rechenschaft ziehen.”
Kardia warf den Kopf in den Nacken und lachte. “Ihr wollt mir drohen? Seid nicht närrisch, kleiner Trosh. Niemand hier wagt es, auch nur ein schlechtes Wort über mich zu verlieren. Ich bin Mitglied des Dorfrates seit mehr Jahren als ihr auf dieser Welt seid. Ich bin ein respektiertes Mitglied dieser Gemeinde und über jeden Zweifel erhaben. Ich habe das Talent des Harfenspiels von der Göttin selbst erhalten, und Ihr würdet staunen, welche Macht damit einher geht…”
Struggel schwitzte, während er Reißers Druck weiter nachgab und sich langsam Kardia näherte. “Das ist also Euer Verbrechen! Ihr missbraucht Eure Gabe und lästert auf diese Weise der Göttin. Darum blieb das Wunder aus. Euretwegen, nicht meinetwegen!”
Kardia kicherte amüsiert. “Habt Ihr Euch tatsächlich so wichtig genommen, dass Ihr glaubtet, das Wunder von Goldfall wäre Euretwegen ausgeblieben? Wegen eines kleinen, unbedeutenden Gnomes?? Ihr überschätzt Euch maßlos, Struggel vom Volk der Trosh, und das ist auch der Grund, weshalb Eure Neugierde hier und jetzt ein Ende finden wird. Tragischerweise werdet Ihr nie erfahren, worum es hier wirklich geht.”
Struggel blickte sich hilfesuchend um. “Was habt Ihr vor? Was habt Ihr vor??” Da spürte er, wie Reißers Kopf sich unter seinen Hosenboden schob und ihn mit einem kraftvollen Ruck nach oben katapultierte. Während sich alles um ihn drehte und sein Körper über die Absperrung fiel, schrie er und schaffte es gerade noch, sich mit einer Hand am Seil festzuhalten.
Dies war eines der 20 Kapitel der Fantasy-Geschichte Goldfall, die im Rahmen dieses Blogs veröffentlicht wird. Lies morgen im nächsten Blogpost, wie die Geschichte weitergeht!