Von ganz hinten verfolgten Struggel und Learto, wie die junge Hochgeweihte auf dem Dorfplatz ihre Rede hielt, die Leute beruhigte, die „große Kontemplation“ ankündigte und sich bei den Pilgern entschuldigte, die den weiten Weg auf sich genommen hatten, um ein Wunder zu sehen, das nun aus unerfindlichen Gründen gescheitert war. Dass sie zuvor geweint hatte, war dem Mädchen kaum anzusehen.
Im Hintergrund standen die übrigen Priesterinnen und Tempeldiener, und Learto hob bei jeder einzelnen beeindruckt die Augenbrauen. Sie alle waren wunderschön, und das war kein Zufall: Die Priesterinnen der Lyreya wurden in erster Linie nach ihrem Liebreiz auserkoren, und darüber hinaus wurden sie jahrelang darin unterwiesen, ihre Schönheit mit allen Mitteln, die Natur und Alchemie bereitstellten, hervorzuheben. Learto hatte sogar irgendwo gehört, dass die Priesterinnen vornehmen Töchtern Unterricht im Liebesspiel erteilten, um deren Heiratswert zu steigern – aber vielleicht war das auch nur ein Gerücht…
Nach der Hohepriesterin wandte sich der Dorfsprecher an die Leute. Er war ein leutseliger Mann mit grauem Vollbart, gekleidet in ein solides Lederwams. „Hört her, ihr Leute! Auch ich habe euch etwas zu sagen. Ich bin Gorwin, Sohn des Gorrun, und im Namen des Dorfes darf auch ich mich entschuldigen. Viele von euch sind von weit her gekommen, und wir wollen nicht, dass eure Reise umsonst gewesen ist. Ihr braucht daher für die nächsten drei Tage und Nächte nichts für eure Unterkunft zu bezahlen, und ich freue mich ganz besonders, ein Fest für heute Abend anzukündigen, mit dem die Göttin versöhnt werden soll. Zu ihren Ehren wird unsere berühmte Harfenspielerin, die altehrwürdige Kardia, ihre einzigartige Kunst zum Besten geben. Kardia?“
An dieser Stelle schritt eine ältere Frau mit hochgestecktem, grauem Haar würdevoll nach vorne und verbeugte sich vor der applaudierenden Menge.
Gorwin klatschte ebenfalls. „Wie, wenn nicht durch Musik, Spiel und Tanz könnten wir Lyreya versöhnen! Also – lasst den Kopf nicht hängen, sondern freut euch auf die zehnte Stunde. Dank’ euch!“
„Ein Fest“, wiederholte Learto in Struggels Richtung. „Das ist gut. Vielleicht vergessen die Leute bei Tanz und Musik Eure Missetat.“
Die zehnte Stunde kam, und das Tageslicht ging.
Die Bänke am Hauptplatz waren neu ausgerichtet worden. Man hatte gemütliche Lauben gebaut und Blumen, Ranken und Girlanden liebevoll arrangiert. Für Licht sorgten glimmende Kohleschalen, deren Geruch sich mit dem eines gebratenen Hirsches vermischte. Goldfall gab sich offenbar alle Mühe, die Leute mit einem spektakulären Abendfest zu versöhnen.
Höhepunkt des Festes war die bereits angekündigte Darbietung Kardias. Dafür trug man eigens eine riesige, mit Goldintarsien verzierte Harfe aus dem Haus der Harfenspielerin herbei.
Es war totenstill, als Kardia ihren Rock lüftete und sich mit starrer Miene an ihr Instrument setzte. Learto konnte erkennen, dass sie hochgewachsen und fortgeschrittenen Alters war. Struggel stand derweilen auf einem Sessel und spähte über dutzende Köpfe hinweg. In der einen Hand hielt er ein Stück Schwarzbrot, in der anderen einen Becher mit gewässertem Wein, wie er hier allerorts ausgeschenkt wurde.
Kardia hob mit einer erhabenen Geste die Hände und streckte die Handflächen gen Himmel, als ob sie eine göttliche Gabe in Empfang nähme. Dann lächelte sie ein bittersüßes Lächeln und schlug die erste Saite an.
Der Klang der Harfe war wunderbar und vollkommen. Weich und ätherisch hoben sich die Töne vom Rauschen des Wasserfalls ab und hallten zwischen den Felswänden, die Goldfall flankierten, wider. Learto war kein Mann der Künste, aber das hier war mit Abstand das Schönste, was er je gehört hatte. Jeder einzelne Ton war genau so, wie er sein musste, als stamme er von Lyreya selbst, und obwohl er das Lied noch nie gehört hatte, war ihm, als kannte er es schon seit langer Zeit.
Auch die anderen lauschten wie gebannt. Kardias Finger glitten mit unnachahmlicher Fertigkeit über die Saiten der Harfe, doch schienen sie auch die Seelen der Anwesenden zu berühren.
Struggel fragte sich, was es war, das die Leute so gebannt zur Harfenspielerin starren ließ. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, und dann traf ihn wie ein Blitz die Erkenntnis.
Um sicher zu gehen, sprang er wie von der Tarantel gestochen vom Sessel, lief um den Hauptplatz bis zur Taverne „Zum Goldfall“, hastete die Treppen hoch und förderte unter seinem Bett ein Buch zu Tage. Durch das Fenster drang weiterhin das Harfenspiel. Hastig blätterte er, bis er die gesuchte Stelle fand. Er wiederholte die Worte, die dort standen, einige Male, um sie sich einzuprägen, dann schlug er das Buch zu und lief wieder nach draußen. Auf dem ledernen Einband befand sich ein von Runen umgebenes Pentagramm.
Wieder zurück am Hautplatz erklomm Struggel den Sessel und flüsterte kaum hörbar die Worte aus dem Buch. „Magalorca shaturar, canlom tarar, canlom paren, magayerca shaturar, canlom taror, canlom testa…“
Immer wieder wiederholte er die Phrase, bis die Festbeleuchtung aus seiner Wahrnehmung verschwand und er – als einziger – in völlige Dunkelheit starrte. Nur dort, wo er gerade noch Kardias Hände ausgemacht hatte, sah er parallele blaue Strähnen aufblitzen. Bei jedem Ton leuchteten sie auf und verglühten gleich wieder binnen eines Herzschlages.
Wenn er die Zauberformel richtig gesprochen hatte – und davon war Struggel überzeugt – dann bedeutete das unweigerlich, dass dort, wo in seiner Wahrnehmung Kardias Hände die Saiten der Harfe berührten, Magie im Spiel war.
Dies war eines der 20 Kapitel der Fantasy-Geschichte Goldfall, die im Rahmen dieses Blogs veröffentlicht wird. Lies morgen im nächsten Blogpost, wie die Geschichte weitergeht!