Jeder hat seine eigenen Vorstellungen davon, wie Rollenspiel ablaufen sollte. Der Schlüssel zum idealen Rollenspielerlebnis kann daher nur dort liegen, wo die Bedürfnisse der konkret Beteiligten bestmöglich erfüllt werden. Was natürlich auch heißt: Je weiter deren Bedürfnisse auseinander liegen, desto schwieriger oder weniger erfüllend der Kompromiss. Wie Gläser, die in einem Zug befüllt werden sollen. Wenn sie unterschiedlich weit auseinander stehen, wird notwendigerweise Wasser verschüttet. So einfach ist das.
Rollenspiel-Norm. Oder? Kann die Antwort auf eine so komplexe Frage so einfach sein? Wenn ja, bedeutete das wohl, dass es so etwas wie “richtiges Rollenspiel” nicht gibt. Oder es gibt eine dem Genre verpflichtete, ungeschriebene Obliegenheit, eine “Norm”, Rollenspiel in einer gewissen Art und Weise zu betreiben, und jene, deren Bedürfnisse von dieser Norm abweichen, müssen im Spiel mit anderen damit rechnen, weniger Befriedigung zu finden, vielleicht sogar abgewertet zu werden. Meine Vermutung ist, dass es diese “Norm” kraft des Faktischen gibt. Kraft Blogs, Foren, Meinungsführern, kurzum: kraft Zeitgeists. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das gut finde, aber ich glaube, es ist so.
Dienstleistungs-SL. Robin D. Laws hat mit seinen Spielertypen der Welt einen sehr wertvollen Dienst erwiesen. Er hat das Bewusstsein geschaffen, dass die Spieler unterschiedliche Bedürfnisse haben und es Ziel eines SL sein muss, jeden so weit wie möglich zufrieden zu stellen. Ich finde, das ist ein wunderschöner Gedanke. Aber birgt er nicht auch die Gefahr, uns – quasi wie Mainstream-Radio, das ja auch eine Mehrheit befriedigen und niemanden stören soll – in eine Welt der Kompromisse und des Durchschnitts zu führen? Ist da noch Platz für Visionen des Spielleiters, für Experimente und schräge Eigensinnigkeiten?
Spielertypen als Kategorisierungsfalle. Ich habe mich unlängst dabei ertappt, einige meiner Spieler nach den Laws-Typen zu kategorisieren, obwohl die Wahrheit natürlich komplexer ist und kein Spieler nur Method Actor oder nur Storyteller ist. Irgendwo birgt die Typisierung auch die Gefahr, es sich (als SL) zu einfach zu machen. Soll ich mich wirklich darauf zurückziehen, Spieler XY als Casual Gamer zu betrachten und mitlaufen zu lassen, oder habe ich nicht irgendwo die Pflicht, ihn herauszufordern, ihn an seine Grenzen zu führen und ihm zu zeigen, wie wohltuend prickelnd es sein kann, mal so richtig in der Rolle aufzugehen und im Gespräch mit dem Großinquisitor Blut zu schwitzen? Ich zumindest habe das Gefühl, dass das eine meiner Aufgaben als SL ist.
Goldene Regel. Die Goldene Regel, bisweilen auch als Rule Zero bezeichnet, gibt es mittlerweile in vielen Nuancen. Eine meines Erachtens recht zeitgemäße Interpretation ist jene, die besagt, dass der Spielleiter das letzte Wort haben soll, wenn es darum geht, dem gemeinsamen Spielspaß gegenüber Regelfragen und -diskussionen zum Sieg zu verhelfen. Das wirft natürlich wiederum Probleme auf, denn was ist denn hier das größere Ganze, dem der SL als primus inter pares Vorschub leisten soll? Das Drama? Ehrlichkeit im Spiel? Berechenbarkeit? Regeltreue?
PiHalbe hat in einem seiner Podcasts mal gesagt (sinngemäß): Wenn ein Spiel die Goldene Regel enthält, gibt der Autor gewissermaßen zu, dass es fehlerhaft ist, sonst bräuchte er die Goldene Regel ja wohl nicht. Kann man das so sehen? Ist die Goldene Regel überhaupt eine Regel im Sinne des Regelwerks? Ich denke nicht. Ich halte sie vielmehr für ein zwischenmenschliches Konzept bzw. den gut gemeinten Versuch, ein solches ins Spiel zu integrieren.
Und… was sind Eure Gedanken dazu?
Rollenspiel ist ja als Begriff schon so eine Schwierigkeit. Hier fehlt das aus dem englischen Äquivalent präsente “game” -> role-playing GAME. Die zutiefst deutsche Vorstellung von Rollenspiel ist somit gewissermaßen eine andere, als es die ursprüngliche, amerikanische ist. Eine Frage von Sozialisierung. Ich bin ein großer Freund von neuen Spielkonzepten, erachte aber Spiele mit narrativem Schwerpunkt nicht mehr als traditionelle Rollenspiele, sondern eben als das, was sie sind: Story Games. Die heißen ja auch so–und das zurecht. Es geht ums Erzählen von Geschichten, während im klassischen Abenteuerrollenspiel der Marke D&D, RuneQuest, Rolemaster und Konsorten die Geschichte eben AUS dem Abenteuer erfolgt, aus dem Handeln der Spieler. Klar, Kategorisierung ist oftmals verpönt, doch ich finde gut zu wissen, dass ich, so es mich gelüstet, gezielt nach Story Games greifen kann, gleichwohl ich weiß, dass es keine Spielart ist, die mich interessiert. Hier finde ich schade, dass es noch kein gutes, deutsches Pendant zum englischen Begriff des “Referee” gibt, denn ich sehe mich eben als ein solcher, ein unparteiischer Schiedsrichter, der dafür verantwortlich ist, eine spannende Welt zu simulieren und das Geschehen MIT den Spielern zu gestalten. Was ich damit sagen möchte ist, dass man innerhalb des Hobbies durchaus schon Grenzen ziehen kann. Rollenspiel ist eben nicht mehr nur Rollenspiel, es ist ein Baum mit einer Vielzahl von Zweigen. So wie ein Brettspiel eben kein Brettspiel mehr ist, es kann ebenso ein Wargame, wie ein Card-driven Eurogame sein–das Spielerlebnis und die Grunderwartung sind eine völlig andere. Bildest du eine Gruppe mit der Grundassumption, dass Story Games gespielt werden, weiß jeder Bescheid und Enttäuschungen können so minimiert, wenn nicht gar ausgemerzt werden. Kommt jemand zu mir in die Gruppe, weiß er dass ich sehr klassisches Abenteuer(rollen)spiel mit KoSim-Elementen betreibe. Wie spannend man das Eine oder Andere findet, kommt auf das Bedürfnis des Spielers an.
Was den Dienstleistungs-SL angeht, sehe ich keinen Bedarf das Spiel an die Bedürfnisse einzelner anzupassen. Wichtig ist das Kollektiv, divergieren aber die Vorlieben der Spieler so stark, gilt es das Setting mit einer möglichst breiten Optionsvielfalt anzulegen. Dann ist für jeden was dabei.
Generell sehe ich in der Kategorisierung von Spielern ein großes Problem, da es, wie du schon sagtest, eigtl. immer komplexer ist als die Kategorisierung zulässt. Investiere diese Zeit lieber in ein Szenario das mit Vielfalt überzeugt.
Meine Goldenen Regeln: Kein Schummeln von Würfen, soweit es geht keine Spieleraktion verneinen, im Zweifelsfall stehe ich über den Regeln (kommt aber meistens nicht vor, da ich Regelanmerkungen seitens meiner Spieler konstruktiv annehme)
Sehr schöner Beitrag, der zum Nachdenken anregt. Beinahe schon zu viel gleichzeitig drin.
Besonders das mit der “Kategorisierungsfalle” kann ich nur unterstreichen. Genausowenig wie es “den Gamisten” gibt, gibt es “den Storyteller”. Jeder Mitspieler ist ein Individuum, das verschiedene Vorlieben hat – ich sehe die größte Schwierigkeit darin, sich beiderseitig über diese Vorlieben klar zu werden und auszutauschen. Beispielsweise kenne ich Mitspieler, die gar nichts dran finden, über Rollenspiel allgemein oder auch nur ihre eigenen Wünsche dafür zu reden – aber sie einfach als “Casual-Spieler, völlig anspruchslos” zu kategorisieren, tut ihnen unrecht. Auf der anderen Seite gibt es auch überzeugte Powergamer, die in einer Gruppe mit eher charakterlastigem Spiel den Spaß an der Darstellung gefunden haben – manchen muss man einfach nur die Möglichkeit geben, einmal etwas anderes auszuprobieren, sie gleichermaßen sanft zu ihrem Glück zwingen.
Dass es eine allgemeine Rollenspielnorm gibt, dem würde ich so nicht zustimmen – dafür sind die Sub-Communities (bzw. die Spieler der verschiedenen Systeme) zu unterschiedlich, ebenso wie die Schwerpunktsetzungen der verschiedenen Rollenspiele. Es gibt Konventionen innerhalb verschiedener Spielerschaften, aber auch die sind nicht in Stein gemeißelt – letztlich ist vieles ausprobierenswert und es schließlich eine ganz individuelle Frage der Spielstile, ob man in einer Gruppe zusammenpasst.
Das Drüber-Reden kann sowas aber viel schmerzfreier machen.
Die “Goldene Regel” hat mit dem Thema aber nicht so viel zu tun, würde ich sagen. Ich verstehe sie in erster Linie als “haltet euch nicht sklavisch an die RAW, sondern macht Hausregeln, damit das Spiel besser zu euch passt”, und nicht als “Der SL darf jederzeit Regeln ändern”.
Rollenspiel-Norm: In gewissem Rahmen gibt es die normative Kraft des Faktischen. Aber nicht allgemein. Ich werde nie den wischi-waschi Spielstil einer typischen DSA-Runde akzeptieren können 😉 Aber leichte Abweichungen dürften mit der Zeit verschwinden. Und ansonsten ist die Vielfalt so groß, dass es bisher nicht einmal gelungen ist Spielstile objektiv zu beschreiben, also wie vereinheitlichen?
Dienstleistungs-SL: Das wort klingt fürchterlich, weil es nach “der SL muss den Spielern alles antragen, inkl. Plot” klingt. Das Mainstreamradio spricht ja eben nicht genau jeden an, sondern sucht den einen virtuellen Typen, der die meisten Individuen enthält. Das ist ja genau nicht, was der SL tun soll. Er soll gucken, wie er jeden einzeln anspricht und nicht, wie er möglichst alle über einen Kamm schert. Aber Kompromisse werden immer nötig sein.
Spielertypen als Kategorisierungsfalle: Jeder SL sollte den Ehrgeiz haben alle Spielertypen am Tisch anzusprechen. Und den Job vereinfachen tut es sicher nicht, denn im Regelfall ist ein SL, der wirklich alle Spielertypen am Tisch ausreichend anspricht ne verdammt coole Sau. Das ist schonmal nen ganzes Stück Arbeit. Und auch wenn kein Spieler genau in eine Kategorie fällt, so dürfte es meistens gut genug sein, wenn man seine Hauptkategorie erfüllt. Im Zweifel die zwei Hauptkategorien. Das ist dann schon richtig gut und dürfte jeden Spieler zufrieden stellen. Der Rest ist Talent und das kann man nicht planen.
Goldene Regel: Ich hätte den PiCast angeführt, wenn Du es nicht schon getan hättest. Die goldene Regel klingt wie die perfekte Entschuldigung für wischi-waschi Spieler und Spielleiter und besonders für Eisenbahnfreunde. Man kann einfach die Physik ändern, schon fällt der Apfel nach oben, super. Spart ne Menge Arbeit, weil man sich keine vernünftigen Abenteuer mehr ausdenken muss. Aber selbst ohne die goldene Regel würde es sie geben. Mich nervt diese Einstellung und darum bin ich auch absolut kein Freund der goldenen Regel. Manchem Neuling mag sie helfen, aber insgesamt scheint sie mir doch eher negativ zu wirken. Vor allem unter dem Namen. Als wäre es das Nonplusultra. Aber wichtiger wäre es, dass es weniger Systeme gibt, die Regelpfuscherei und Handewedelei fast schon fordern und auch weniger Gruppen die nach dieser Art spielen. Die goldene Regel ist da mehr Symptom als Problem.
@Nerzjäger: Wieso ist “Schiedsrichter” keine vernünftige Übersetzung von “referee”?
Ich finde nur die Wortkonstellation unglücklich. Auch wenn es dasselbe bedeutet, wäre mir etwas Kürzeres á la “referee” eben lieber. 😉
Rollenspiel-Norm
Es gilt: System Matters. Aber klar gibt es so etwas wie “Standard-Rollenspiel”, das sicher durch die Dominanz von D&D bzw. DSA geprägt wurde. Der Standard wird gerade deswegen bestätigt, weil es so viele RPGs gibt, die sich gegen den Standard auflehnen. Wenn ich gegen die Norm arbeite, dann heißt das auch: Es gibt eine Norm.
Dienstleistungs-SL
Am SL hängt viel, aber nicht alles. Alle gemeinsam sind dafür verantwortlich, dass alle gemeinsam einen guten Spieleabend haben. Aber ich finde den Dienstleistungs-SL immer noch besser als den Selbstverwirklichungs-SL. Mein Ziel Nummer eins ist, die Spieler zu begeistern, denn dann habe auch ich meinen Spaß. Es ist nicht, mein Ding durchzuziehen.
Spielertypen
Robin Laws sagt in seinem Buch ganz klar, dass es ihm um eine Typologie und keine Schubladisierung geht. Die meisten Spieler fallen irgendwo zwischen die Kategorien. Es geht einzig und allein darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass unterschiedliche Spieler unterschiedliche Dinge vom Spiel wollen.
Goldene Regel
Sehe ich wie Andreas. Die Goldene Regel besagt, dass es durchaus erlaubt und erwünscht ist, die Regeln zu ändern, aber nicht willkürlich und rein SL-gesteuert. Vom Satz “der Spielleiter hat immer Recht” halte ich auch nichts. Er geht von einer antagonistischen Beziehung zwischen SL und Spielern aus, was aus meiner Sicht die falsche Ausgangslage ist. Gleichzeitig ist es eine Einladung zur Willkür und zur Schlampigkeit im Umgang mit Regeln und Game Balance. Ich bevorzuge einen anderen “Führungsstil” im Rollenspiel.
Sehr interessant! Da glaubt man, man hat ein Thema aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet und kommt dann doch drauf, dass man immer noch ein eingeschränktes Gesichtsfeld hat…
Danke für euren Input!
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