Die Vergangenheit eines Settings hat im Rollenspiel große Bedeutung. Im großen Rahmen sind es Schöpfungsmythen und Götter- und Heldensagen, die definieren, wie sich eine Welt anfühlt. Sind die Götter böse, rachsüchtig, fordernd, oder sind sie nachsichtig, wohlwollend, väterlich? Natürlich kann man das auch ohne Bezug zur Vergangenheit hineinschreiben, aber dann wird es oft glatt und kalt. Erst Geschichten erfüllen solche Attribute mit Leben.
In Araclia z.B. gibt es zu (fast) jeder Gottheit eine Geschichte. Kastorna zum Beispiel war nicht immer die Göttin des Eises und der Kälte. Dazu wurde sie erst, als Sastrates ihr gemeinsames Kind ermordete und sie ihr Herz gefrieren ließ, weil es sonst zersprungen wäre. Sastrates wiederum wurde ob dieser Sünde ins Totenreich verbannt. Er ist seitdem Gott der Sünde und des Leids und Totengott.
Im mittelgroßen Kontext ist es die Vergangenheit, die die Basis für die heutigen Machtverhältnisse legt. Damit ist die klassische Geschichte von Ländern und Königreichen angesprochen, von Kriegen und Blütezeiten, irren Königen und großen Katastrophen in den letzten Jahrhunderten. Auch hier sind es die kleinen Details, die die Geschichte mit Leben erfüllen und den Tenor setzen.
Die irre Königin Seterra, die in ihrem Garten die giftigsten Pflanzen züchtete und deren Sporen dann im ganzen Land verteilte, sodass ein Drittel der catorischen Bevölkerung an einer grausamen Lungenkrankheit dahingerafft wurde, ist nicht nur eine Geschichte, die man sich gut vorstellen kann, sie gibt auch dem heute noch verbreiteten Gift Seterrakrone eine schauderliche Note.
Die meisten Settings haben ein oder zwei historische Episoden, die so einschneidend sind, dass sie (wohl wie die beiden Weltkriege in unserer Realität) die Welt auf Jahrhunderte hinaus definieren und – aus Spielerperspektive – auch als Merkmal gelten. Meistens ist es irgendeine Art von Kataklysmus, der für Chaos sorgt oder besondere Zustände rechtfertigt.
In Araclia ist es der Aufstieg und Fall von Rishamer, einer dekadenten Magierkaste, die sich zur Verteidigung ihrer Machtposition einer Armee phantomarer Krieger bediente, der sogenannten Wandelnden. Allein, die Wandelnden täuschten ihre Herren und ließen sich am Ende keineswegs beherrschen. Sie gingen durch jede Wand, schritten über das Wasser und vernichteten allerorts auf Araclia tausende Menschenleben. Dieser Schreck sitzt den Catoriern heute noch so tief in den Gliedern, dass sie Magie fürchten und verabscheuen. Es erklärt auch, warum die Catorier besonders gottesfürchtig sind, ihre “anti-magische” Ritterkultur hochhalten und Zauberkundige unter ihnen ein schweres Los haben…
Und schließlich, im kleinen Rahmen, sind es die lokalen Episoden aus der Vergangenheit, die das Kolorit von Orten oder Persönlichkeiten so bereichern, dass Spieler und Spielleiter etwas damit verbinden und eine Vorstellung davon entwickeln, wie es ist, an dem jeweiligen Ort zu leben. Und natürlich hilft es beim Entwickeln eigener Abenteuerideen.
Die Stadt Enerestis im Moor der Schlafenden Drachen wird gleich doppelt so interessant (und plausibel), wenn man weiß, dass diese in der Zeit von Rasmorrtah von menschlichen Flüchtlingen gegründet wurde, die ihren krelvetischen Peinigern zu entkommen suchten. Und wer weiß, ob die Menschen bei ihrer Flucht nicht auch das eine oder andere Krelveten-Artefakt mitgehen ließen, das noch immer in den alten steinernen Fragmenten verborgen liegt? Oder ob die Krelvetenschamanen den Flüchtlingen Geister hinterher jagten, die bis zum heutigen Tag irgendwo gebunden liegen?
Das Problem mit der Vergangenheit im Rollenspiel ist, dass sich niemand gerne mit ihr auseinandersetzt. Spielleiter haben Besseres zu tun als sich durch Chroniken zu kämpfen, und Spieler agieren tendenziell lieber im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit darf auch nicht zum Selbstzweck werden oder als schriftstellerische Ersatzbefriedigung herhalten. Sehr wohl aber darf sie interessieren, inspirieren, erklären und motivieren und ein Setting mit inhaltlicher Tiefe versehen.